Michael Kasiske Freier Autor

08.06.2007 Bauwelt 23

Nachruf

Sir Colin St. John Wilson, 1922–2007.

Maler wollte er werden, im Fach Geschichte nahm er sein Studium auf, um bald zur Architektur zu wechseln, in der er beide Neigungen bündelte: Colin St. John »Sandy« Wilson. Der Kunst hielt er auch als Sammler und Freund von Zeitgenossen die Treue, etwa dem Bildhauer Eduardo Paolozzi und dem Maler R. B. Kitaj, deren Arbeiten seine berühmte und gleichzeitig berüchtigte British Library schmücken.
 
Einen »dreißigjährigen Krieg« nannte der leidenschaftlich bibliophile Wilson Planung und Reali- sierung des größten nationalen Gebäudes im 20. Jahrhundert. Erst wurde nach ein paar Jahren ein anderer Bauplatz festgelegt, dann folgten eine Stop-and-go-Politik der Finanzierung und die Reduktion des Programms um die Hälfte. Dem 1997 schließlich vollendeten Bau wohnt dennoch eine eigene Würde inne. So sehr Wilson jeden Pomp vermied, so unbedingt maß er seinen Arbeiten einen jeweils eigenen expressiven Gestus zu. Die British Library weicht zwar mit der Kubatur vom Blockrand zurück und zeigt die oberirdische Masse erst im rückwärtigen Bereich, besitzt aber mit Portikus, Vorhof und Uhrenturm klassische Insignien stadträumlich bedeutender Architektur. Diese als »Akademie der Geheimpolizei« zu beleidigen, entlarvt den britischen Thronfolger als baukünstlerisch groben Klotz.
 
Begonnen hatte Wilson seine Karriere beim London County Council Architects’ Department 1950 an der Seite von James Stirling, Allan Colquhoun, Alison und Peter Smithson. Fünf Jahre später wechselte er nach Cambridge, wo er mit der Erweiterung der Architekturfakultät glanzvoll reüssierte. Der Theoretiker des Brutalismus, Reyner Banham, charakterisierte sie als »eklektischsten Entwurf, der je in eine anonym aussehende Backsteinkiste gepresst wurde«.
 
Wilsons eigenes Wohnhaus von 1961 scheint hingegen die klassischen Verweise der Postmoderne vorwegzunehmen. Peter Smithson wähnte sich in den gerade aus dem Erdboden wachsenden Grundmauern in Pompeji, für Colin Rowe war es »the smallest monument in Cambridge«. Folgerichtig beheimatet es heute das Archiv von Ludwig Wittgenstein. Eine überzeugende Referenz an den von ihm verehrten Alvar Aalto erwies Wilson mit den Studentenhäusern »Harvey Court« und »William Stone Building«.
 
Die Begeisterung für die rauen Backsteinbauten führte mich vor vier Jahren zu einem letztlich ergebnislosen Besuch bei Wilson, fühlte sich dieser doch mehr den klaren Lehren der Architekturhistorie als der Ästhetik eines Brutalismus verbunden. Er muss in jungen Jahren ein sehr hübscher Mann gewesen sein, befand meine Begleiterin danach. Das hätte der trotz seines britischen Understatement charmante Mann sicher mit einem amüsierten Lächeln quittiert. Am 14. Mai ist Sir Colin St. John Wilson im Alter von 85 Jahren gestorben.