Michael Kasiske Freier Autor

09.09.2011 Bauwelt 35

Die neue Kunsthalle Bremen

Mit ihrer Erweiterung des Hauses setzen Hufnagel Pütz Rafaelian Architekten ein Zeichen für das Weiterbauen historisch bedeutsamer Substanz mit den Mitteln der Moderne.

»Seht ihr denn die Bänder nicht? Sie drücken die Fußbodenlinien des existierenden Gebäudes aus. Sie enthüllen die Struktur. Ehrliche Form – Schönheit, wenn man so will – kann nur aus enthüllter Struktur erwachsen!«, schrieb der amerikanische Kolumnist Tom Wolfe 1981 über die Erweiterung der Yale University Art Gallery. »Die einzigen erkennbaren Einzelheiten auf dieser glatten, öden Oberfläche sollten fünf enge Bänder sein. Für einen Marsmenschen oder einen durchschnittlichen Yale-Studenten ähnelte das Gebäude einem Discountladen in einem Einkaufszentrum.« 
 
Dreißig Jahre nach »From Bauhaus to Our House« sieht man Bänder an den Erweiterungen eines Hauses, das für hehre Ästhetik steht: die Kunsthalle Bremen. Die Bemerkung eines Journalisten bei der Eröffnung, Passanten hätten sich an eine Turnhalle erinnert gefühlt, ähnelt Wolfes banaler Polemik gegen Louis Kahns Bau in New Haven. Doch die Kunsthalle ist in der alten Welt gegründet, von der Historie bis zu Rezeption.
 
Der Kunstverein in Bremen, bis heute privater Träger der Institution, gründet sich 1823 aus einem Kreis Bremer Sammler. Die rasch wachsende Zahl von Kunstwerken lässt ebenso rasch den Wunsch nach einem eigenen Ausstellungsgebäude aufkommen. Nach intensiver Standortsuche fällt die Wahl auf die Bremer Wallanlagen, dem 1802 auf dem einstigen Festungswerk angelegten Landschaftspark.
 
Die ersten beiden von bis heute sechs Wettbewerben werden 1844 kurz hintereinander ausgeschrieben. Ihre Ergebnisse befriedigen nicht; erst mit der Überarbeitung setzt sich der Bremer Baumeister Lüder Rutenberg durch. Sein betont schlicht und funktional gestaltetes Haus, dessen Länge der heutigen Eingangsfront entspricht, wird 1849 eröffnet.
 
In den folgenden Jahrzehnten führt der zunehmende Wohlstand der Bremer Kaufleute zu zahlreichen Schenkungen, die 1898 den dritten Wettbewerb um eine Erweiterung auslösen – erneut mit einem unbefriedigenden Ergebnis. Doch die Kaufleute des Kunstvereins reagieren pragmatisch und beauftragen zwei Teilnehmer: Auf Albert Dunkels Grundrissen soll die gemäßigte Neorenaissance-Fassade von Eduard Gildemeister aufbauen. Das Gebäude von 1849 wird zum Eingangsbauwerk, hinter dem sich die Ausstellungsräume um eine zentrale Freitreppe nach Süden entwickeln. Aus Rücksicht auf die langen Sichtachsen der Wallanlagen verschiebt man die Erweiterung asymmetrisch nach Westen. 1902 wird der neue Bau mit einer einheitlichen Sandsteinfassade eröffnet.
 
Zahlreiche Bombeneinschläge beschädigen die Kunsthalle im Zweiten Weltkrieg schwer. Zwar wird das vollständig zerstörte Treppenhaus notdürftig hergerichtet, doch erst eine Sanierung im Jahr 1961 macht das ganze Gebäude wieder nutzbar. 1975 bringt der vierte Wettbewerb, erneut geht es um eine Erweiterung, zwar einen eindeutigen Sieger hervor, jedoch keinen Entwurf.
 
Der vom Berliner Architekten Werner Düttmann vorgeschlagene Anbau im Süden wird schnell wieder verworfen. Der schonendste Eingriff in den geschätzten Landschaftsraum scheint auf der Ostseite zu liegen, ein stark abfallender Hang zum Gerhard-Marcks-Haus, der klassizistischen ehemaligen Ostertorwache. »Die Anweisung für den Entwurf könnte lauten: Pack alle im Programm geforderten Räume in eine Kiste und vergrabe dieselbe so tief du kannst, damit zum Ostertor allenfalls eine eingeschossige Wand erscheint, besser eine Gartenmauer, die von den Bäumen weit überragt wird«, klagt Düttmann zur Einweihung 1982 und tröstet sich bitter: »Im Süden darf die Kiste dann ein Haus sein.«
 
Die Bremer sind dennoch unzufrieden, dass ihnen an dieser Stelle die Sicht auf den Stadtgraben genommen wird und der Weg dorthin auf eine schmale Gasse zusammenschrumpft. Ein zu hoher Preis für Ausstellungsräume, Depots und Café? Das Herzstück des Anbaus ist der Vortragssaal für 400 Personen, dessen kubistisch gestaltete Wände wiedergeben, was Düttmann außen zu bauen verwehrt bleibt: Einen scharfkantigen, mit präzisen Einschnitten gestalteten Kubus mit einer Oberfläche aus Sichtbeton. Stattdessen muss der Architekt Ziegelstein verwenden, der zwischen dem Sandstein der Kunsthalle und dem weißen Marcks-Haus fremd und unbeholfen wirkt.
 
Der vorletzte Wettbewerb 1994 gilt der Sanierung des Altbaus. Neben der dringend notwendigen museumstechnischen Ertüchtigung des seit 1961 nicht mehr renovierten Altbaus, ist der Abriss des zentralen Treppenhauses zugunsten einer seitlich liegenden offenen Treppe der entscheidende Eingriff. Als Reminiszenz entwirft der verantwortliche Architekt Wolfgang Dahms eine ovale Öffnung zwischen dem Erdgeschoss und dem Obergeschoss.
 
Der vorerst letzte Wettbewerb, dessen Ergebnis nun gebaut ist, hat einen simplen Anlass: Die Klimatechnik erweist sich als unzureichend, die Depots, Werkstätten und Anlieferung sind unbefriedigend und es wird mehr Ausstellungsfläche benötigt. Zu jeweils einem Drittel geben die Bundesrepublik Deutschland, die Stadtgemeinde Bremen und der Kunstverein Zusagen für geschätzte 30 Millionen Euro Baukosten, sodass 2005 ein offener Wettbewerb ausgelobt werden kann. Dem Verfahren wird seinerzeit unterstellt, ein Feigenblatt für die Auswahl eines »Markenarchitekten« zu sein, denn zu den in der ersten, offenen Phase ausgewählten Teilnehmern sollen in einer zweiten Phase renommierte Büros eingeladen werden. Dazu kommt es aufgrund rechtlicher Bedenken aber nicht.
 
Die Auslobung der ersten Phase sieht nur eine östliche Erweiterung vor, womit der Abriss des Düttmann-Anbaus besiegelt ist. In der zweiten Phase, die dem Ausarbeiten ausgewählter Entwürfe dient, wird auf Vorschlag der späteren Sieger die Möglichkeit eingeräumt, auch an der Westseite zu planen.
 
Das Berliner Büro Hufnagel Pütz Rafaelian, dessen Entwurf die Wettbewerbsjury abschließend prämiert, kann mit dem Museum für bildende Künste in Leipzig schon auf einen ähnlich programmierten Bau wie die Kunsthalle Bremen verweisen. In Leipzig erschwerten personelle Wechsel die Realisierung des Baus. Dergleichen möchte man an der Weser nicht wiederholen: Der Vorsitzer des Kunstvereins Georg Abegg und der Museumsdirektor Wulf Herzogenrath verlängern ihr Mandat, über den Eintritt in den Ruhestand hinaus, bis zu Fertigstellung des Hauses.
 
Der Eingang erinnert an die beeindruckende Großzügigkeit des Baus in Leipzig. Die über die Höhe des Erdgeschosses reichenden Automatiktüren in Rahmen aus Baubronze schieben sich lautlos zur Seite und geben den Weg zur Kunst frei. Diese sieht der Besucher schon von der Straße, der Blick reicht durch die großflächige Verglasung bis in den zentralen Raum.
 
Die helle Mitte im Innern zieht mehr Aufmerksamkeit auf sich als die äußeren Veränderungen, die Annexe auf beiden Seiten des Altbaus. Ihre Geschlossenheit erinnert an Schatztruhen, wobei die östliche, größere den Anbau von Düttmann ersetzt. Mit der Konzentration auf eine in sich ruhende Form spielen die Architekten den Bau aus der verunklarten städtebaulichen Situation heraus und erlauben wieder den lang entbehrten Blick zum Stadtgraben.
 
Die Fassaden geben sich spröde. Das Unter- und das zweite Obergeschoss verschwinden hinter zweischaligen Fensterbändern. Die beiden Ausstellungsgeschosse hingegen sind vollständig mit großen Platten aus poliertem Beton geschlossen, in dem Natursteinzuschläge für einen sich der Sandsteinfassade annähernden Farbton sorgen. Entsprechend der innenräumlichen Situation dringt der Neubau in die an dieser Stelle geschlitzte alte Fassade ein. Die Geschosse werden, statt mit einer Ziegelleiste wie bei Kahn, durch LED-Schrift-Bänder betont, von denen zum Bannen jeglicher Verwechslung zu wünschen ist, dass sie sich nicht alle gleichzeitig bewegen.
 
Im Inneren ist derlei Modisches nicht zu entdecken, der Ausgangspunkt liegt im Bestand, mit dem alle Entwurfsideen korrespondieren. Nach dem Durchschreiten des quadratischen Eingangsraums gelangt der Besucher durch wiederum überhohe Türen in den klimatisierten zentralen Raum. Gleich links und rechts sind in den Ecken sind in eigenen Räumen Treppen und Aufzüge untergebracht, die die frühere offene Treppe ersetzten. Durch das Schließen der ovalen Deckenöffnung gelingt es den Architekten, den Raum als zentralen Verkehrsraum zu entlasten. Einzig die Ädikulen im Erdgeschoss und im ersten Obergeschoss erinnern an die frühere Freitreppe und verleihen dem Raum eine Strenge, die, so Herzogenrath, »für die verluderten Räume notwendig war«.
 
Der Rundgang in beiden Etagen hat seinen eigenen Reiz durch den Wechsel zwischen den alten Räumen im Bestand und den neuen Räumen in den Annexen. Die Unterscheidungen in den aus konservatorischen Gründen fast immer fensterlosen Räumen sind diskret, doch eindeutig: Die Fußböden der alten Räume sind aus dunkel pigmentierter Eiche und die Wände farbig im Stil des 19. Jahrhunderts, im Neubau kommt hell gekalkte Eiche zum Einsatz, die Wände sind neutral weiß. Die homogene Materialität ist ein Merkmal von Hufnagel Pütz Rafaelian, das hier wie in Leipzig überzeugt. 
 
In den neuen Räumen bleiben die früheren Fassaden des Altbaus sichtbar, die dank der zeitgenössisch typischen Fuge beim Düttmann-Anbau auch vollständig erhalten sind. Die Türöffnungen und die Lichtbänder an der Decke der Annexe beziehen sich auf die einstigen Fensteröffnungen. Vom ersten Oberschoss zur Bibliothek beziehungsweise zu den Verwaltungsräumen haben Hufnagel Pütz Rafaelian die Fuge wieder aufgegriffen, sodass die nach oben verschwindende Fassade ihre Grandezza behält. Im Untergeschoss sind, wo die Funktionen größere Raumzusammenhänge erfordern, Stützen in die Fassade des Altbaus eingeschlitzt. Deren Betonoberfläche ist scharriert und entspricht formal der Oberfläche des Sandsteins.
 
Die Verlagerung der Museumspädagogik und der Werkstätten aus dem Sockel des Altbaus in die Annexe macht Platz für das Café auf der museologisch ohnehin problematischen Südseite. Räume für die Bibliothek und die Verwaltung konzentrieren sich jeweils in den Obergeschossen der Neubauten, ein kleiner Versammlungssaal wurde im Untergeschoss des Altbaus eingerichtet. Im zweiten Obergeschoss, wo sich früher Oberlichter befanden, wird der sogenannte Cage-Raum um einen Wechselausstellungsbereich für neue Medien ergänzt. Im Süden liegt in der Mittelachse der über drei Geschosse durchgehende »Skyspace« von James Turrell, in dem sich – Zufall? – das verschwundene Oval aus dem zentralen Raum wiederfindet.
 
Für das Motto der Architekten, nicht auf Kontrast, sondern auf Tradition zu setzen, steht Pars pro Toto der neue Studiensaal für die Grafik, der durch die Entkernung kleinerer Räume möglich wurde. Die Doppelung des historischen Kupferstichkabinetts, dem einzigen denkmalgeschützten Raum des Museums, nimmt durch die gediegene und präzise Gestaltung für sich ein und erinnert an bibliophile Schatzkammern. Funktional werden beide Räume nunmehr in den Rundgang einbezogen.
 
Dass sich die Bausumme um etwa sechs Millionen Euro, also um 20 Prozent erhöht hat, war wohl der unerwartet umfangreichen Ertüchtigung des Altbaus geschuldet. Dafür kommt der Kunstverein auf, der die Nachträge mit beschlossen hat. Glück für die Architekten, dass die von ehrwürdigen Museen geprägten Herren Abegg und Herzogenrath den Wunsch nach hoher architektonischer und ausstellungstechnischer Qualität nachdrücklich unterstützten.
 
Hufnagel Pütz Rafaelian zeigen sich bei diesem Bau als romantische Moderne. Auf der einen Seite steht die Suche nach idealtypischer Architektur, die einen schmückenden Platz im Landschaftsraum einnehmen will, auf der anderen die Fähigkeit zum abstrakten Durchdringen und Strukturieren. Zeigen und enthüllen, wenn man so will, machen die überzeugende Ästhetik der Kunsthalle aus. Dass die Architekten den vollständig beseitigten Architekturen von Düttmann und Dahms ihren Respekt zollen, spricht für sie.
 
Was für den Deutschen schlicht »gut gebaut« ist, wäre für den Italiener »bella figura«. Herzogenrath stellt denn auch zutreffend fest, eine »neue Kunsthalle« erhalten zu haben, nicht nur eine erweiterte. Den Geldgebern dieses Bauabschnitts ist die dritte Gedenktafel in der Lounge gewidmet. Eine Tafel ist noch leer und lässt auf weitere Aktivitäten schließen, die jetzt aber nur noch nach oben führen können.
 
 
Neue Kunsthalle Bremen
Architekten: Hufnagel Pütz Rafaelian, Berlin