Michael Kasiske Freier Autor

31.07.2009 Bauwelt 29

Modern Wing. The Art Institute of Chicago

Architekt: Renzo Piano, RPBW, Genua/Paris

Im Verständnis des Deutschen Museumsbunds ist ein Museum »eine von öffentlichen Einrichtungen oder von privater Seite getragene, aus erhaltenswerten kultur- und naturhistorischen Objekten bestehende Sammlung, die zumindest teilweise regelmäßig als Ausstellung der Öffentlichkeit zugänglich ist, gemeinnützigen Zwecken dient und keine kommerzielle Struktur oder Funktion hat«. Diese 1978 formulierte Definition eines uneigennützigen Bildungsauftrags und einer wertfreien Forschung sollte man sich ins Bewusstsein rufen bei der Betrachtung des neu eröffneten Art Institute of Chicago, das wie die meisten amerikanischen Museen nahezu keine öffentliche Förderung erfährt.
 
Die Attraktion des nunmehr zweitgrößten Museums der USA, der von Renzo Piano entworfene »Modern Wing«, hat 294 Millionen US-Dollar verschlungen. Rund 200 Millionen kosten die noch nicht abgeschlossene Sanierung des angrenzenden Bestands und die Neuordnung der Sammlungen. Die Zuwendung vom Bundesstaat Illinois belief sich auf zwei Millionen. Das heißt, 99,6 Prozent des Budgets in Höhe von 500 Millionen wurden aus Spenden bestritten, weshalb auch nahezu alle Räume nach den Pritzkers, Buckbaums, Nichols, Abbotts und anderen Spendern benannt sind. Das private Engagement hat in den USA Tradition.
 
Ein Rückblick: Das Art Institute of Chicago wurde 1879 als Depot für Objekte gegründet, die Kunststudenten als Vorbilder dienen sollten. Von Beginn an hatte die Institution ihren Sitz an der Michigan Avenue, wo »The Loop«, wie die von einem innerstädtischen Hochbahnring umschlossene Downtown Chicago genannt wird, an die Uferfront des Lake Michigan grenzt. Das historische Eingangsgebäude wurde 1890 für die Weltausstellung geplant, jedoch mit der Bestimmung, dass es nach der Expo dem Art Institute als Stammhaus dient. Das ursprünglich U-förmige, zum See geöffnete Gebäude war das einzige Bauwerk auf der Ostseite der Straße, errichtet auf einem Baugrund, der durch das Verschütten von Trümmern gewonnen worden war. Zu diesem Zeitpunkt lag das Ufer unmittelbar hinter den Eisenbahngleisen, die bis heute den Museumskomplex bestimmen.
 
Die Erweiterungen des Ausstellungshauses begannen alsbald. Erst wurde der Hof mit Auditorium und Bibliothek gefüllt, dann folgte – nicht einmal zehn Jahre nach der Fertigstellung – ein neuer Flügel für die Verwaltung. Bis 1911 expandierte die Anlage sowohl nach Norden als auch nach Süden. Sie erhielt umlaufende Terrassen und zwei Gärten, die den durch die Verbreiterung der Michigan Avenue entfallenden Vorplatz ersetzten.
 
Durch weitere Aufschüttungen entstand jenseits der Gleise ein große Fläche, auf der entsprechend dem 1909 festgesetzten »Plan of Chicago« der Grant Park angelegt wurde. Ihm lag zugrunde, dass »the Lakefront by right belongs to the people« und somit die Fläche zwischen Loop und dem Lake Michigan nicht weiter bebaut werden durfte. Dadurch erhielt das Art Institute auch städtebaulich eine herausgehobene Stellung, die es nutzte: Noch im Ersten Weltkrieg wurden die Bahngleise mit einem zweigeschossigen Galeriebau überbrückt. Dieses neu erschlossene Areal wird östlich begrenzt durch den in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Columbus Drive.
 
Die Überbrückung zog unweigerlich weitere Bauten nach sich. 1926 wurde ein eingeschossiges Gebäude mit einem großen, dennoch intimen Innenhof errichtet. Schnell füllten weitere flache Bauten, in denen vor allem die Schule des Art Institute untergebracht waren, das Grundstück nach Norden und Süden aus. Der Zweite Weltkrieg unterbrach die Bauaktivitäten. Erst um 1960 wurden in rascher Folge zwei Flügel an das Ursprungsgebäude auf der Westseite zugebaut, was zur Abschirmung der beiden Gärten von den Bahngleisen beitrug.
 
Mitte der siebziger Jahre folgte auf der Ostseite eine großflächige dreigeschossige Überbauung, die zwar wie die Bestandsbauten mit Kalkstein verkleidet ist, jedoch durch abgeschrägte Winkel in Grund- und Aufriss das bis dahin dem rechten Winkel huldigende Bild des Komplexes brach. Die heute missliebig betrachtete Erweiterung erhält aber ausgerechnet durch eine Inkunabel der Architektur eine außerordentliche Bedeutung: Der originale Hauptsaal der 1972 abgerissenen Chicagoer Börse, die von den Architekten Adler and Sullivan im gleichen Jahr wie das Ursprungsgebäude des Art Institute errichtet worden war, wurde hier rekonstruiert.
 
All diese unermüdlichen baulichen Aktivitäten verdanken sich einem stets prominent besetzten Museumsvorstand, dem es gelang, mittels Schenkungen und Dauerleihgaben eine bedeutende Sammlung zusammenzustellen. Bereits in den achtziger Jahren konnten gerade die Sammlungsblöcke der Impressionisten und der klassischen europäischen Moderne mangels Raum nur fragmentarisch ausgestellt werden. Zudem besitzt die als Universalmuseum ausgerichtete Institution auch einen großen Fundus an nichtwestlicher Kunst, die mit einer Handvoll Exponaten in der bisherigen Ausstellung ein Schattendasein fristete.
 
Vor zehn Jahren beschloss der Vorstand, den für Museumsbauten auch in Amerika ausgewiesenen Architekten Renzo Piano mit der in der Geschichte des Art Institute größten Erweiterung direkt zu beauftragen. Seine Aufgabe umfasste neben dem Neubau nichts weniger als eine komplette Arrondierung des gesamten Ausstellungsbereichs.
 
Die städtebauliche Situation, die Piano 1999 vorfand, hatte mit dem nördlich des Museums liegenden Millennium Park eine grundlegend neue Ausrichtung erfahren. Bis in die siebziger Jahre von einem Bahnhof besetzt, war das Gelände prädestiniert, zum Bindeglied zwischen Loop und Grant Park zu werden. Der Musikpavillon, von Frank O. Gehry entworfen, wurde zum Initial für die Entwicklung eines öffentlichen Freiraums. Daneben machen vor allem zwei Kunstwerke den Ort u einem »Peoples Place«: die monumentale Skulptur »Cloud Gate« von Anish Kapoor, in der sich die Silhouette Chicagos spiegelt, und das Wasserspiel »Crown Fontain« von Jaume Plensa, zwei mit LED-Videoscreens versehene Türme, auf denen in zehnminütigem Rhythmus Gesichter von Chicagoern gezeigt werden.
 
Die im besten Sinn volkstümliche Attraktivität des Millennium Park eröffnete in den Augen des Museumsvorstandes und des Architekten die Chance, mit dem Nordflügel einen zweiten Eingang zu schaffen. Neben dem Ursprungsgebäude werden vor allem die über den Gleisen liegenden Galerien vom lediglich passierenden Besucherstrom entlastet und als Ausstellungsräume wieder aufgewertet, nun auch wieder natürlich belichtet durch die Öffnung einer Wand.
 
Renzo Piano gliederte seinen Nordflügel in zwei »Pavillons«: einen großen, nahezu quadratischen und einen lang gestreckten. Verbunden werden beide durch eine lang gezogene Halle. Der große Pavillon ist durch das Flugdach als Hauptbaukörper markiert, der andere ordnet sich dem auch inhaltlich unter.
 
Die Glasfassaden brechen durch ihre streng vertikal gegliederte Struktur mit der bislang von Horizontalen dominierten Erscheinung des Komplexes. Der Zubau erhält gegenüber dem Ursprungsbau eine Eigenständigkeit, die freilich seiner Bedeutung als zweiter Eingang angemessen Rechnung trägt. Des Weiteren ergänzt Piano die bisherige strikte Ost-West-Ausrichtung, indem er rechtwinklig an die alte Achse seine große Halle anschließt. An ihrer Decke zeigt sich der konstruktive Geist des Architekten, nämlich ein filigranes Tragwerk. Mit der gut sichtbaren, weiß lackierten Konstruktion will Piano der industriellen Vergangenheit der Stadt huldigen, die real allerdings weitaus ruppiger ist als sein gefälliges Stahlgestänge.
 
In dem Pavillon zwischen der Halle und den Bahngleisen sind kleinere Einheiten angeordnet: im Erdgeschoss Räume für Sonderausstellungen und für den Besucherservice, im ersten Obergeschoss die Galerie für Architektur und Design sowie der Versammlungsraum des Vorstands und im zweiten Obergeschoss das Restaurant, dem eine Skulpturenterrasse vorgelagert ist. Zwischen der Erweiterung aus den siebziger Jahren und der Halle befinden sich Galerien für zeitgenössische Kunst und Fotografie.
 
Mit der Belegung des großen Pavillons offenbart sich die Doppeldeutigkeit der Betitelung »Modern Wing«. Hier werden bereits vor der Einlasskontrolle im Erdgeschoss die Seminarräume für das pädagogische Programm erschlossen. Im ersten Obergeschoss hat die zeitgenössische Kunst Platz gefunden, die ausschließlich über die vollständig verglasten Nord- und Südseiten belichtet wird. Im obersten Geschoss befindet sich die Europäische Moderne: Die durchgehenden Oberlichter in den Räumen erzeugen eine helle Stimmung und setzen damit ein Charakteristikum älterer Säle des Museums fort. Sensibel fügen sich die Elemente der Ausstellungsräume dank genau gesetzter Schattenfugen zueinander. Für die Fußböden kam weiße Eiche zum Einsatz, für ausgewählte Akzente Birke und Kirsche. Alles zusammen erzeugt eine warme, vornehme Atmosphäre.
 
Die Fassaden des Nordflügels bestehen in Fortsetzung der Altbauten aus Kalkstein, dazu Glas, Stahl und Aluminium für die Konstruktion der Fensterwände. Die doppelte Verglasung, die übrigens aufgrund fehlender örtlicher Voraussetzungen in Deutschland hergestellt werden musste, enthält photovoltaische Zellen, die die Kunst vor direktem Sonnenlicht schützen. Mittels Lichtsensoren wird gleichzeitig die künstliche Beleuchtung auf die Stärke des Tageslichts abgestimmt.
 
Das Flugdach, von den Pressestrategen als »Fliegender Teppich« kommuniziert, besteht aus Sheds, die das Nordlicht in die Oberlichtsäle lenken und gleichzeitig starken Lichteinfall aus den anderen drei Himmelsrichtungen verhindern. Die quadratische Dachfläche überdeckt teilweise den neuen, drei- seitig umschlossenen Hof. Dessen klare rechteckige Form verdankt sich auch der mit einer Skulptur von Ellsworth Kelly geschmückten Wand, die gleich einem Paravent den ungeliebten Bau aus den siebziger Jahren verdeckt.
 
Die Verbindung zum Millennium Park über den Nichols Bridgeway, der im Nachgang zum Gebäudeentwurf entwickelt wurde, ist ein überflüssiges Accessoire. Abgesehen von den unbefriedigend gestalteten Anschlüssen: Wer im dritten Obergeschoss ankommt und in das Museum will, muss in das Erdgeschoss hinuntereilen, um die Einlasskontrolle zu passieren.
 
Eingedenk der klassischen Ausrichtung des Art Institute Chicago erstaunt die Wahl eines europäischen Architekten nicht. Renzo Piano will erklärtermaßen solide funktionierende und gestaltete Gebäude abliefern. Das hat er hier erfüllt, doch bleibt die Frage, ob moderne und zeitgenössische Kunst auch anders als ehrfurchtsvoll in stil- und maßvoll konzipierten Sälen rezipiert werden kann, ob eine Präsentation angestrebt werden könnte, die weniger an den hohen Marktwert der kostbaren Stücke denken lässt als an ihren kulturellen Beitrag – kurz, ein Museum, das sich nicht allzu demütig vor seiner eigenen Würde verneigt. Ein wenig von der widerständigen Geste etwa eines Centre Pompidou hätte auch am Ufer des Lake Michigan den musealen Talar lüften können, ohne gleich – dafür steht die Qualität von Piano – in Eventarchitektur abzudriften.
 
Ohne Zweifel hat das neue Konzept das Art Institute Chicago von toten Fluren, dem Auf und Ab durch die Sammlungen und auch den zuweilen kruden Chronologien erlöst. Bleibt zu wünschen, dass der »Modern Wing« ein über den Ort hinausweisendes Zeichen dafür werde, dass man sich in Zukunft von allzu spektakulärer Museumsarchitektur befreit und sich zum anderen wieder einem Museumsbegriff nähert, der seinen Common Sense weniger in der Bereitstellung von Museumsshops findet.
 
 
Modern Wing. The Art Institute of Chicago
Architekt: Renzo Piano, RPBW, Genua/Paris